Das erste Objekt, ein auf einem Jacquardwebstuhl mechanisch gewebter Wandbehang aus Lichtenstein (Sachsen), zeigt eine Sommerlandschaft beim Sonnenuntergang mit Hirschen. Auf der Rückseite gibt ein aufgeklebter Zettel Auskunft über dessen Herstellung in der Fabrik Paul Zierold. Die beiden Nadellöcher an den oberen Ecken des Wandbehangs deuten auf seine Funktion als Wandbild hin.
Eine genauere Erforschung der Materialien und Eigenschaften des Wandbehangs würden noch mehr Erkenntnisse über die Entwicklung der Einrichtungskultur zwischen Ende der 1920er und Anfang der 1970er Jahre hervorbringen.
Im Zuge der Recherchen zu diesem Wandbehang ist das Museum jedoch auf weitere spannende Informationen gestoßen, die zu einem zweiten, mit dem Wandbehang in Verbindung stehenden Objekt führen. Auf dieses Objekt soll deshalb im heutigen Beitrag ebenfalls der Blick gerichtet werden. Es handelt sich um eine Umhängetasche, von Hand genäht aus dem Stoff einer vermeintlichen Sofadecke.
Interessante Einblicke ergaben sich in diesem Zusammenhang aus erst kürzlich geführten Interviews mit zwei Zeitzeug*innen (im Folgenden ZZ 1 und 2 genannt). Sie haben solche Taschen in ihrem Alltag genutzt. Durch die Interviews zeigte sich, dass der gezeigte Wandbehang und die Tasche mehr verbindet, als auf den ersten Blick zu vermuten ist.
Eine solche Tasche wurde übrigens allgemein als „Hirschbeutel“ bezeichnet, auch wenn sich, wie im Fall des hier gezeigten Objektes, das Hirsch-Motiv gar nicht auf der Tasche befindet.
Zunächst zurück zum Wandteppich: Teppichwandbilder gewannen in der ersten Hälfte der DDR-Zeit an großer Beliebtheit und wurden massenweise auch in die Sowjetunion exportiert. Für die „integrierte Generation“ (Wurschi 2007) – die Generation, die Ende der 1970er Jahre die Jugend in der DDR bildete – hatten sie jedoch eine ganz anders geartete Bedeutung. Für sie waren gewebte Wandteppiche, Decken und Bezüge mit Gobelinmotiven, zunächst einfach „unmoderne“ (ZZ 1, 23.08.2022) Einrichtungsgegenstände aus dem Haus der Großeltern. Eine Verwandlung und somit Zweitnutzung verhalf aber den als altmodisch angesehenen Stoffen zum Kultstatus. Aus den Wandbehängen und den dafür verwendeten Stoffen wurden Taschen gefertigt. Da auf den Wandteppichen häufig Hirsche dargestellt waren – wie das erste Sammlungsobjekt zeigt – wurden diese Taschen allgemein als „Hirschbeutel“ bezeichnet.
Eine ehemalige Besitzerin eines solchen Hirschbeutels, betonte im Interview mit dem Museum kürzlich: „Wir [Mädchen], aber auch Jungs, hatten lange Haare, trugen Jeans, Parka-Jacke, Kletterschuhe, Römerlatschen und halt diese Taschen. Durch diese Uniform, so widersprüchlich wie es ist, wollten wir anders sein.“ (ZZ 2, 24.08.2022). Die von ihr genannten Accessoires – und auch der „Hirschbeutel“ – gehörten zeitweise zum Standardoutfit von Teilen der Jugend in der DDR, besonders der so genannten „Tramper-, Blues- und Kundenszene“. Ihre Leitmotive, unter anderem Nonkonformismus, stammten aus der Hippie-Bewegung, wie auch die Aussagen der Zeitzeugin im Interview bestätigen: „Wir hatten das berühmte Woodstock-Festival als Vorbild.“ (ZZ 2, 24.08.2022).
Neben Outfit und musikalischer Vorliebe ging es bei manchen Angehörigen der „Tramper-Szene“ um Provokation. Sie waren aus Sicht der Staatssicherheit ein „Bürgerschreck“ (Rauhut 2012: S. 41) und gefährdeten mit ihrem flegelhaften und asozialen Verhalten sowie mit ihrer mangelhaften Hygiene die öffentliche Sicherheit. Ereignisse, wie die Okkupierung eines Stadtbads bei einem Volksfest 1977 in Penig (heute Landkreis Mittelsachsen), der überfüllte Bahnhof 1980 in Prag oder überfüllte Konzertsäle fanden ihren Weg in die Akten der Behörden (Rauhut 2012).
Die Aussagen in den Interviews mit beiden Zeitzeug*innen zeigen auf, dass das Tragen und Nutzen solcher Beutel keinesfalls mit der Identifizierung bzw. der Zugehörigkeit zu einer extrem ausgerichteten Subkultur gleichzusetzen ist. „Die Hirschbeutel waren einfach in, jeder Zweite hatte sowas“, so ein Zeitzeuge (ZZ 1, 23.08.2022).
Wichtig dabei war den Zeitzeug*innen im Interview, dass die „Hirschbeutel“ selbstgemacht waren. Aber genau diese Eigenschaft stellt das Erinnerungsvermögen der ehemaligen Hirschbeutelbesitzer*innen über den konkreten Herstellungsprozess von der Decke zur Tasche auf die Probe. Wie war es eigentlich genau?
So viel steht fest: Viele Omas schenkten ihren Enkel*innen die alten Wandteppiche und/oder nähten ihnen daraus einen „Hirschbeutel“. Wer Reststoff übrig hatte, gab diesen an Freunde weiter. Auch die fertigen Taschen wurden untereinander getauscht.
Der erst kürzlich in die Sammlung aufgenommene „Hirschbeutel“ (ohne Hirsch-Motiv) wurde aus „Omas“ Decke hergestellt. Es zeigt, dass die „Hirschbeutel“ aus dem Stoff genäht wurden, der gerade zur Verfügung stand.
In die Tasche packte man persönliche Gegenstände und ab ging es auf Reisen – zu Konzerten, in die Ferien an den Plattensee, zur Übernachtung auf der Margareten-Insel in Budapest und so weiter… Wenn diese Taschen doch nur sprechen könnten!
Ein reges und mobiles Leben hatten die „Hirschbeutel“ bis Mitte der 1980er Jahre. Und so wurde mit den alten Stoffen der Wandteppiche ein Stück der Geschichte einer Subkultur geschrieben.
Dank an Anne-Sophie Berner für den kollegialen Austausch!
Literatur
Rauhut, Michael: Das Kunden-Buch. Blues in Thüringen, Erfurt 2012.
Wurschi, Peter: Rennsteigbeat. Jugendliche Subkulturen im Thüringer Raum 1952-1989 (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung 11), Köln 2007.
https://www.jugendopposition.de/themen/145450/hippies-in-der-ddr (aufgerufen am 11.08.2022)
https://de.wikipedia.org/wiki/Blueserszene (aufgerufen am 11.08.2022)
Museum der Stadt Lichtenstein/Sa.: Halstücher – Diwandecken – Möbelstoffe, Weberei Paul Zierold – Möbelstoff- und Plüschwerke 1874 bis 1990, Texttafel
Zeitzeug*innen-Interviews
ZZ 1 – Informelles Interview mit einem ehemaligen Besitzer eines Hirschbeutels. 23.08.2022, Kloster Veßra
ZZ 2 – Informelles Interview mit einer ehemaligen Besitzerin eines Hirschbeutels. 24.08.2022, Kloster Veßra
Wandbehang, vor 1972
Fabrik Paul Zierold, Lichtenstein/Sachsen
Baumwolle, mechanisch gewebt
Höhe: 1,5 cm, Länge: 68 cm, Breite: 160 cm
HMKV Inv.-Nr. I 393

Hirschbeutel, Ende 1970er Jahre
Baumwolle
Höhe: 2mm, Länge: 96 cm, Breite: 34 cm
HMKV Inv.-Nr. I 395
