Unsere Sammlung steht vor einem Umzug in ein neues Depotgebäude. Dazu muss sie qualifiziert, neu geordnet, gereinigt und verpackt werden. So strukturiert das auch klingt, so bedeutet diese Arbeit vor allem ein andauerndes Suchen nach Lösungen für neu entstandene Fragen. Diese Arbeit bringt uns aber auch zu neuen Entdeckungen. Es fühlt sich wie Last und Privileg zugleich an, auf nicht dokumentierte oder nicht inventarisierte Objekte zu stoßen: wie Puzzlesteine eines unbekannten Bildes, aber auch wie ein Schatz, der seit langer Zeit nicht berührt wurde.
Im Monat März zeigen wir eine solche Neuentdeckung, die uns vor Detektivaufgaben stellt: 102 nicht inventarisierte Glasnegative aus einem Nachlass von Emil Freund aus Themar, die wir im Sommer 2022 im Zuge unserer Umzugsvorbereitungen vorgefunden haben. Was erzählen uns nun diese Glasnegative?
Auf dem hier gezeigten Negativ ist ein lächelnder Mann im dunklen Anzug mit weißen Hemd und Strohhut zu sehen. In seiner rechten Hand hält er einen auf der Schulter abgelegten, aufgespannten Sonnenschirm. Auf dem Boden sieht man den Schattenwurf von ihm und einem Baum. Hinter ihm ist ein Zaun zu sehen, der die Straße von Bahnschienen trennt. Direkt hinter dem Zaun liegt ein Sandhaufen. Im Hintergrund befinden sich ein Bahnhofsgebäude und eine Lock mit Waggon. Am linken Bildrand erkennt man noch zwei weitere Menschen, die vielleicht gar nicht mitkriegen, dass sie gerade fotografiert werden. Das Glasnegativ war in einer Pappschachtel des Glasnegativherstellers J. B. Gebhardt Köln a. Rhein aufbewahrt (Abb. 1.).
Eine Spurensuche zur Entstehung der Aufnahme ist – wie bei vielen historischen Aufnahmen (ohne Datierung, ohne Autor), so auch bei der Familie Freund – keine leichte Aufgabe. Die Schenkerin, die Enkelin von Emil Freund, die den Nachlass 1993 dem Museum anvertraut hat, können wir nicht mehr fragen. Die Möglichkeit der Rückfrage bei der Verwandtschaft beschränkt sich heute nur noch auf den Kontakt zu einer Urenkelin.
Emil Freund wuchs in Themar in ärmeren Verhältnissen auf. Er arbeitete sich jedoch unter anderem mit Viehhandel hoch und gründete 1890 in Themar sein eigenes Geschäft für den Vertrieb von Futtermitteln, Dünger und Saatgut in der Meininger Straße. Das war damals das einzige derartige Unternehmen in der Stadt. Nach seinem Tod 1937 wurde das Geschäft von seiner Frau Luise Freund und seinem Schwiegersohn Ludwig Hettenhausen, übernommen und wurde so bis zu seiner Verstaatlichung in den 1960er-Jahren aufrechterhalten. „Ich erinnere mich noch klar: über dem Tor zur Scheune hing ein großes Schild: Emil Freund: Mehl & Futtermittel“, erzählte uns ein Senior-Bewohner der Stadt.
Die Urenkelin konnte die meisten Negative aus dem Nachlass Emil Freund nicht zuordnen. Auf dem hier abgebildeten Negativ (Abb. 2.) erkannte sie jedoch den Bruder ihrer Urgroßmutter, also den Schwager von Emil Freund. Dieser hieß Karl Bohrmann, wurde in Erfurt geboren und studierte in Leipzig Ingenieurwissenschaft. Sein Tod ist für 1908 überliefert.
Dieses Datum fügt sich in die Entwicklungsgeschichte der sogenannten Gelatinetrockenplatten, das Material unserer Glasnegative. Gelatinetrockenplatten kamen 1878 auf den Markt und brachten mit dem Trockenverfahren entscheidende Änderungen des Fotografierens mit sich. Beim älteren nassen Kollodiumverfahren war das Fotografieren noch recht kompliziert: Die Kollodiumglasplatten wurden von professionellen Fotografen handgefertigt und die Bilder mussten nach der Aufnahme sofort entwickelt werden. Die Gelatinetrockenplatten hingegen wurden nicht nur industriell produziert, sondern ermöglichten Aufnahmen mit kürzerer Belichtungszeit (unter einer Sekunde). Da diese auch transportfähig waren, konnte nun sogar auf Reisen fotografiert werden. Ihre Verwendung nahm seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu. Allmählich wurde das Fotografieren einem größeren Kreis zugänglich, und ab den 1920er-Jahren etablierte sich mit der Herstellung der Kleinbildkamera die Amateurfotografie. Die hier vorgestellten Trockenplatten sind deshalb besonders spannend, weil sie aus einer Übergangszeit stammen. Sie entstanden Ende des 19. Jahrhunderts und zeigen vermutlich Aufnahmen eines Amateur-Fotografen, von denen es zu der Zeit noch nicht viele gab. Mit seinem Maß von 9 cm x 12 cm hat das Negativ ein eher kleineres Format für Glasnegative. Die dafür benötigte Kamera konnte bereits gut auf Reisen mitgenommen und von Amateur-Fotografen genutzt werden. Der starke Lichteinfall am linken Bildrand deutet außerdem auf eine nicht professionelle Aufnahme hin.
Auf einem weiteren Negativ (Abb. 3.) lassen sich ebenfalls Hinweise auf eine Amateur-Fotografie wiedererkennen: Die Aufnahme einer Picknick-Gesellschaft in den Bergen vermittelt einen spontanen Augenblick von unterwegs. Der dunkle Schatten am rechten Bildrand könnte beim Transport oder bei der Entwicklung entstanden sein.
Die im Karton (Abb. 1.) verwahrten Glasnegative sind für unsere Sammlung eine wertvolle Entdeckung. Sie sind fotogeschichtlich ein wichtiges Zeugnis der Amateur-Fotografie. Familiengeschichtlich eröffnen uns diese Negative und weitere „Puzzlesteine“ aus dem Nachlass Emil Freunds, wie zum Beispiel Geschäftsunterlagen, Briefe, Zeitschriften, eine Schaukel, ein Tankstellenschild, ein Jutesack mit Firmenstempel, vielfältige Zugangsmöglichkeiten zum Leben der Familie, die sich hinter dem Nachlass des Emil Freund verbirgt. So können wir die Familie sowohl im Zeitgeschehen einordnen als auch ihre Bedeutung für die Stadt Themar weiter erforschen.
Glasnegativ, Ende 19. – Anfang 20. Jh.
Gelatinetrockenplatte
Höhe: 9 cm, Breite: 12 cm, Tiefe: 2 mm
HMKV, Inv.-Nr. I 427
Glasnegativ, Ende 19. – Anfang 20. Jh.
Gelatinetrockenplatte
Höhe: 9 cm, Breite: 12 cm, Tiefe: 2 mm
HMKV, Inv.-Nr. I 428
Karton „Trockenplatten von J.B. Gebhardt Köln a. Rhein“,
Ende 19. – Anfang 20. Jh.
Karton
Höhe: 10,5 cm, Breite: 14 cm, Tiefe: 4,3 mm
HMKV, Inv.-Nr. I 429 a
Literatur und Quellen:
Bortfeldt, Maria: E-Mail vom 05.01.2023 (Dokumentation Museum Kloster Veßra).
Schmidt, Marjen: fotografien. erkennen bewahren ausstellen, Berlin und München 2018.
Starl, Timm: Bildbestimmung. Identifizierung und Datierung von Fotografien 1839 bis 1945, Marburg 2009.
https://www.photographic-flux.ch/gelatin-dry-plate (aufgerufen am 20.12.2022).
Interviews:
Telefon-Interview mit der Urenkelin von Emil Freund. 22.12.2022 und 19.01.2023.
Telefon-Interview mit einem Zeitzeugen zum Geschäft von Emil Freund. 20.12.2022.
Telefonat mit Stadtarchiv Themar. 20.12.2022.