Am Karfreitag, Freitag vor Ostern, gedenken Christen allerorts dem Leiden und Sterben Christi am Kreuz. An diesem Tag wurde Jesus von Nazareth durch den römischen Statthalter Pontius Pilatus zum Tode verurteilt und auf dem Hügel Golgatha ans Kreuz genagelt, wo er leidvoll starb. Im Zusammenhang mit Ostern, dem Tag der Auferstehung Christi, handelt es sich um das älteste und höchste Fest des Kirchenjahres.
Passend dazu zeigen wir als Objekt des Monats April ein Kruzifix (Abb. 1–2), eine skulpturale Darstellung des Gekreuzigten und somit das zentrale Thema der christlichen Bilderwelt. Das heute in der Henneberger Kapelle des Museums Kloster Veßra aufgehängte monumentale Kruzifix aus dem 12. Jahrhundert ist das älteste und eines der bedeutendsten Objekte in der Museumssammlung. Obgleich die Holzskulptur nur rudimentär erhalten und der ursprüngliche räumliche Zusammenhang verloren ist, hat das Kruzifix bis heute eine große Strahl- und Aussagekraft. Warum das so ist, erklären wir in unserem Beitrag. Schauen wir uns zunächst das Objekt näher an.
Der Christuskorpus ist an einem Holzkreuz oberhalb des Chorbogens in der Henneberger Kapelle montiert. Wir sehen einen nur mit Lendentuch bekleideten langhaarigen Mann mit Kinnbart, dessen Kopf nach unten zur Seite geneigt ist. Dem Korpus fehlen beide Füße, seine rechte Hand, Teile der linken Hand, die obere Hälfte des Kopfes und große Partien des Gesichts. Dennoch erkennen wir den am Kreuz hängenden, gestorbenen Christus. Das Gesicht zeigt ein spitz zulaufendes Kinn, um das ein schmaler, mit Linien ins Holz gezeichneter Kinn- und Backenbart bis zu den Ohren wächst. Die noch vorhandenen Lippen sind schmal und leicht geöffnet. Die flachen, leicht eingefallenen Wangen sind nur im unteren Bereich erhalten. Der Rest des Gesichts ist verloren. Der schmal wirkende Kopf ist nach vorne und etwas zur rechten Seite geneigt. Hinten sind lange schwarze Haare erkennbar. Ein dünnes langes Haarbüschel fällt über seine rechte Schulter nach vorne. Das geschnitzte Haupthaar setzt sich in gemalten Haarsträhnen auf dem oberen Rücken fort (Abb. 3). Eine um den oberen Hinterkopf laufende Einkerbung legt die Vermutung nahe, dass die Christusfigur ursprünglich eine Dornenkrone getragen hat. Der Kopf sitzt auf einem kräftigen Hals. Auf dem Brustkorb zeichnen sich die Rippen durch annähernd parallele Einkerbungen und einen spitz zulaufenden Rippenbogen deutlich ab. Auf seinem rechten Rippenlappen klafft eine leicht rot eingefärbte Seitenwunde. Der Bauch mit mandelförmigem Bauchnabel ist leicht vorgewölbt. Die muskulösen Arme sind ganz leicht nach oben ausgestreckt, wodurch ein Hängen des Körpers am Kreuz verdeutlicht wird. Seine rechte Hand mit Handgelenk fehlt, die linke Hand ist nur noch teilweise vorhanden. Der Unterkörper ist von einem knielangen Lendentuch bedeckt. Der obere Rand des wickelrockartigen Tuchs ist umgeschlagen und seitlich geknotet. Große Partien des Lendentuchs fehlen. Es ist jedoch zu erkennen, dass das Tuch an den Seiten gerade fällt und vorne in der Mitte tief angelegte Falten bildet. Darunter kommen die leicht angewinkelten Knie und Unterschenkel zum Vorschein. Die Füße sind verloren. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Christus nicht als Triumphator, sondern in seiner Körperhaltung und mit (nicht erhaltener) Dornenkrone als Leidender dargestellt ist. Es handelt sich um eine Schnitzarbeit von hoher Qualität. Aufgrund der Formensprache, z. B. Ausbildung der Rippenbögen oder der Falten des Lendentuchs mit seitlichem Knoten, kann der Christuskorpus ins 12. Jahrhundert datiert werden.
Neben dem rudimentären Zustand des Gekreuzigten fällt insgesamt auf, dass das Holz durch Schädlingsbefall stark angegriffen wurde. So sind bei näherem Betrachten alte Fraßgänge und Ausfluglöcher von Schädlingen, wie Nagekäfern, sichtbar. Der Korpus wurde aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzt, da ein großes Holzstück zur Anfertigung offensichtlich nicht vorhanden war. Die Einzelteile sind verzapft oder mit Holznägeln miteinander verbunden. Stellenweise sind neuzeitliche Ergänzungen zu sehen. Die Skulptur ist nahezu holzsichtig, die ursprünglich vorhandene Farbfassung hat sich nur in kleinen Resten erhalten. Der Christuskorpus ist auf einem schlichten Holzkreuz befestigt, das Ende der 1990er Jahre zur Aufhängung in der Henneberger Kapelle angefertigt wurde.
Die jahrhundertelange Geschichte des wertvollen Objekts verlief zum Teil abenteuerlich, soweit aus den Museumsakten und der spärlich vorhandenen Literatur ersichtlich. Die Herkunft des Objekts ist unklar. Möglicherweise haben Bildschnitzer in Bamberg oder Magdeburg das Kruzifix angefertigt, schrieb Günther Wölfing[1] und berief sich dabei auf eine erste Einordnung durch Winfried Wiegand.[2] In Bamberg regierte zur Entstehungszeit Bischof Otto I. (1102–1139), Förderer und Mitbegründer von Veßra. Für eine von Wölfing für wahrscheinlicher gehaltene Herkunft des Kruzifixes aus Magdeburg spricht, dass aus dem dortigen Kloster Unserer Lieben Frauen die Erstbesetzung nach Kloster Veßra kam. Zur weiteren Klärung der Herkunftsfrage bedarf es vertiefter Untersuchungen, zum Beispiel könnten ein erneutes Quellenstudium und insbesondere eine vergleichende Untersuchung mit weiteren Kruzifixen der Zeit Erkenntnisse liefern.[3] Es wird vermutet, dass das monumentale Kruzifix als Triumphkreuz in hoher Position vor dem Chorraum in der ehemaligen Klosterkirche Veßra hing, die heute noch als Ruine erhalten ist. Es wäre somit das einzige erhaltene Ausstattungsstück der großen Klosterkirche St. Marien.[4] Diskutiert werden müsste in diesem Zusammenhang neben der Herkunft, der genaueren Datierung, dem ursprünglichen Anbringungsort und der Funktion außerdem das mögliche Vorhandensein von Assistenzfiguren, wie Maria oder Johannes.
In nachklösterlicher Zeit blieb das Kruzifix über Jahrhunderte unentdeckt oder zumindest unbeachtet.
Lediglich in einem Inventar der Henneberger Kapelle aus dem Jahr 1770 wird „Ein hölzerner Kruzufix“[5] genannt, bei dem es sich vermutlich um unser Objekt des Monats handelt. Danach verliert sich die Spur des Kruzifixes, bis es 1935 zur Restaurierung in das Institut für Denkmalpflege nach Halle gebracht wurde.[6] Infolge der jahrhundertelangen unsachgemäßen Lagerung war das Holzobjekt stark beschädigt. Der Gekreuzigte bestand nur noch aus Einzelteilen und das Kreuz scheint nicht mehr vorhanden gewesen zu sein. Wegen des schlechten Erhaltungszustandes blieb das Objekt vorerst in Halle. Es ist unklar, was bei der Restaurierung 1935 gemacht wurde. Zwischen 1954 und 1956 konnte schließlich durch die Entwicklung neuer Technologien eine erste Konservierung am Institut für Denkmalpflege in Halle vorgenommen werden. Die stark zerstörte Holzstruktur wurde mittels einer Harztränkung gefestigt. Nach einer Trocknungszeit von zwei Jahren wurden 1956 die Einzelteile zusammengesetzt und die Skulptur vermutlich anschließend zurück nach Kloster Veßra gebracht. Die Füße, die auf den Fotos der Einzelteile von 1954 (Abb. 4–5) noch zu sehen sind, wurden nicht wieder montiert. In einem Brief des Instituts für Denkmalpflege Arbeitsstelle Halle vom 25.10.1989 ist dazu Folgendes zu lesen: „Nach 2 Jahren Trocknung erfolgte die Zusammensetzung durch Herrn Stollberg, dabei wurden die vermutlich gotischen Füße weggelassen […]“.[7] Über den Verbleib der Füße, deren Datierung in die Gotik nicht sicher ist, ist leider nichts bekannt. Ob es sich bei dem Kruzifix ursprünglich um einen sogenannten Dreinageltyp oder einen Viernageltyp gehandelt hat, lässt sich nicht eindeutig sagen. Der ältere Viernageltyp zeigt den mit vier Nägeln ans Kreuz genagelten Christus, d. h. beide Füße sind separat angenagelt. Beim entwicklungsgeschichtlich jüngeren Dreinageltyp sind die Füße übereinandergelegt und mit nur einem Nagel ans Kreuz geheftet. Winfried Wiegands Auffassung, dass es sich aufgrund der Anordnung der Beine um einen Viernageltyp gehandelt habe, könnte nochmal überprüft werden.
Nach Gründung des Agrarhistorischen Museums Kloster Veßra 1975 übergab am 16.9.1976 der Themarer Pfarrer „aus Sicherheitsgründen eine beschädigte Holzplastik „spätgotischer Christus“ zur Aufbewahrung.“[8] Vermutlich handelte es sich hierbei um unser Objekt des Monats. Doch auch der museale Kontext führte vorerst nicht zu einem Bewahren und Erhalten. Das Objekt lag in Lagerräumen unter schlechten klimatischen Bedingungen. Bei einer Zivilverteidigungsübung wurde das Objekt gravierend beschädigt, indem die Arme abbrachen (Abb. 6).[9] Es ist aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar, dass eine derartige Übung mit schützenswertem Kulturgut stattgefunden hat.
Glücklicherweise veranlasste in den 1990er Jahren der damalige Direktor des Hennebergischen Museums Kloster Veßra eine erneute Restaurierung. Sie wurde zwischen 1996 und 1998 in den kirchlichen Werkstätten in Erfurt durchgeführt. In diesem Zusammenhang wurde die Aufhängung des einstigen Depotobjekts in der Henneberger Kapelle beschlossen. Seit dem Jahr 2005 kann das Kruzifix in der Henneberger Kapelle bestaunt werden. Es wird seitdem regelmäßig restauratorisch begutachtet und gepflegt, um es der Nachwelt zu erhalten. Eine genauere kunsthistorische Untersuchung und Einordnung steht noch aus.
Nutzen Sie Ihren nächsten Museumsbesuch und schauen Sie sich das herausragende Zeugnis klösterlichen Lebens in Kloster Veßra an.
[1] Wölfing 2000, S. 60–61.
[2] Verf. dankt Dr. Winfried Wiegand (ehem. Direktor der Meininger Museen) für das freundliche Telefonat im Februar 2023.
[3] Beer 2005 liefert einen guten Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen, nennt das Veßraer Kruzifix erstaunlicherweise jedoch nicht.
[4] Ob der heute in der Themarer Stadtkirche stehende Altar ursprünglich aus Kloster Veßra stammt, ist nicht zu verifizieren.
[5] Zitiert nach Badstübner 1961, S. 32.
[6] Badstübner 1961, S. 26; Wölfing 2000, S. 60.
[7] Brief von Karoline Danz / Institut für Denkmalpflege Arbeitsstelle Halle an Carola Müller Restauratorin Erfurt, 25.10.1989 (Dokumentation Museum Kloster Veßra, Fotoarchiv Mappe 43 Einzelgegenstände).
[8] Dokumentation Archiv Museum Kloster Veßra.
[9] Dokumentation Archiv Museum Kloster Veßra.
Kruzifix in der Henneberger Kapelle,
12. Jahrhundert
Laubholz mit Fassungsresten
Maße: Korpus: 138 cm x 135 cm x 26 cm;
Kreuz: 230 cm x 180 cm
HMKV
Literatur:
Badstübner, Ernst: Die Prämonstratenser Klosterkirche zu Veßra in Thüringen (Romanische Kunst Mitteldeutschlands, Reihe A, Architektur, Band 1), Berlin 1961.
Wölfing, Günther: Die Henneberger Kapelle im Kloster Veßra – Geschichte, Baugeschichte und Ausstattung, in: Wölfing, Günther (Red.): 25 Jahre Hennebergisches Museum Kloster Veßra 1975 – 2000 Festschrift (Veröffentlichungen des Hennebergischen Museums Kloster Veßra 12), Kloster Veßra 2000, S. 49–64, hier S. 59–61, 64.
Beer, Manuela: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Mit einem Katalog der erhaltenen Denkmäler (zugl.: Bonn, Univ., Diss. 2003), Regensburg 2005.
Abbildungen:
Abb. 1–2: HMKV/Foto Joachim Hanf, 2023
Abb. 3 und 6: HMKV/Restaurierungsbericht Kirchliche Werkstätten für Restaurierung Erfurt, 1998
Abb. 4–5: HMKV/Fotoarchiv, Mappe 43 Einzelgegenstände, Institut für Denkmalpflege Halle, 1954

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5

Abb. 6