
Am Ende jeden Erntejahres versammelt sich seit über 450 Jahren Anfang November die Gleichamberger Dorfbevölkerung, um gemeinsam Kirmes zu feiern. Nur in Kriegszeiten und während der Corona-Krise musste dieser lebendige Brauch ausgesetzt werden.
Bei der „Kärmeß“ wird an die Weihe der Gleichamberger Kirche im Jahr 1549 erinnert. Den Höhepunkt der ursprünglich einwöchigen, heute noch vier Tage dauernden Veranstaltung bildet der Umzug am letzten Tag. Vermutlich geht er auf einen heidnischen Brauch zurück, der bereits vor der Weihe der Kirche begangen wurde. Der Kirmesumzug stellt die Abgabeneintreibung für den Gutsherrn bzw. die Kirche aus früheren Zeiten dar. Der Gleichamberger Maler Walter Wagner (1911-1993) hat den Umzug der ausgelassen feiernden Dorfbevölkerung in seinem großformatigen Gemälde anschaulich in Szene gesetzt.
Im Zentrum des Ortes Gleichamberg haben sich auf dem Platz unterhalb der Kirche und entlang des Weges zur Kirche hinauf zahlreiche Menschen versammelt, um dem Spektakel beizuwohnen. Durch die kulissenhafte Höhenstaffelung des Kirchberges und die umgebenden Fachwerkhäuser entsteht ein bühnenartiger Bildaufbau. Zugleich scheint der Betrachter wie die Zuschauer um den Platz herum in das Geschehen mit eingebunden zu sein.
Im Vordergrund rechts steht eine Blaskapelle, die den Umzug musikalisch begleitet. Am unteren Bildrand ist im Vordergrund ein hölzerner Wagen mit einem schwarz gekleideten Kutscher zu sehen. Der Kutscher stellt den Gutsherrn oder Pfarrer dar, der früher Abgaben von der niederen Bevölkerung eintrieb. Hinten auf dem Wagen liegt ein Sack für die Abgaben. Heute bewacht der Kutscher ein Fass Bier, das er bezahlen muss, sollte er den Wagen verlassen müssen. Der hintere Abschluss des Wagens ist nicht mehr zu sehen, er ist vom unteren Bildrand abgeschnitten. Der Wagen wird von den sogenannten „Hans-Würsten“, den einfachen Bauern und Leibeigenen, gezogen. Sie tragen lumpige Kleidung, Masken und bunt beklebte, zuckertütenförmige Hüte (tatsächlich handelt es sich um die beklebten Zuckertüten der Schuleinführung). Die Buchstaben „HW“ auf dem Rücken stehen für „Hans-Wurst“. In den Händen halten sie „Holzpetschen“ (Peitschen).
Der Weg des Umzugs durch das Dorf wird von den „Büggele“ (Krüppeln, Gebrechlichen des Dorfes) vorgegeben, indem sie mit Hacke und Strohwisch einzelne Straßen absperren und den Zug immer wieder umleiten. Endpunkt des Umzugs ist auf Wagners Gemälde der Platz unterhalb der Kirche, auf dem schließlich die Kirmespredigt verlesen werden soll.
Während des Umzugs durch das Dorf versuchen die Hans-Würste dem Gutsherrn bzw. Pfarrer die eingetriebenen Abgaben wieder zu entreißen. Die in weiße Hemden und mit Strohhüten gekleideten „Hemmerleute“ (Hemdenleute, die die ländliche Oberschicht abbilden) überwachen den Zug und probieren, die Hans-Würste vom Entwenden der eingetriebenen Steuern abzuhalten. Auf Wagners Gemälde hat einer der Hemmerleute seine Peitsche erhoben, um im nächsten Augenblick einen davonrennenden Hans-Wurst zu treffen. Unterdessen macht sich ein anderer Hans-Wurst unbemerkt am Wagen zu schaffen, um die Abgaben zu stehlen. Was dann geschieht, ist auf dem Gemälde rechts neben dem Holzwagen dargestellt. Dort liegt auf dem Boden eine Strohpuppe, die den Abgabeneintreiber oder „Kirmespfarrer“ darstellt. Er wird kurzerhand von den Bauern, die die Abgaben für zu hoch halten, in Stücke gerissen. Zwei Hans-Würste ziehen bereits an den Beinen und Armen der Strohpuppe. Sobald die Strohpuppe ganz zerrissen ist, wird ein Ersatz-Pfarrer von zwei Hans-Würsten herbeigeführt. Er ist auf dem Gemälde im Hintergrund links bereits zu sehen, er wird den Hans-Würsten jedoch noch ein- oder zweimal ausreißen, bis er schließlich die Kirmespredigt verliest. Die Kirmespredigt enthält eine politische Einleitung und als Hauptteil lustige Vorkommnisse des vergangenen Erntejahres. Sie wird über das Jahr hinweg von verschiedenen Schreibern verfasst. Der politische Teil wurde viele Jahre von dem Maler Wagner geschrieben.
Der 1911 in Sonnenberg geborene Walter Wagner besuchte zwischen 1926 und 1930 die Staatliche Industrieschule, Kunstgewerbliche Fachschule für die Spielwarenindustrie und Keramik in Sonneberg. Nach den Kriegswirren kam er durch seine Bekanntschaft mit dem Gleichamberger Kunstmaler Fritz (Friedrich) Hegler 1945 nach Gleichamberg und blieb dort bis zu seinem Tod 1993. 1948 erhielt Wagner die Zulassungsurkunde des Ministeriums für Volksbildung des Landes Thüringen zur Ausübung des Berufes als „freischaffender Künstler“. Ab 1952 war er zudem als Mitarbeiter der Energieversorgung tätig und in Gleichamberg als „Licht Wagner“ bekannt. Über seinen künstlerischen Werdegang und sein künstlerisches Oeuvre ist bislang kaum etwas bekannt. Das vorliegende qualitätvolle Gemälde spricht jedoch für einen geschulten und begabten Maler, der in seiner szenenreichen und bunten Darstellung der Gleichamberger Kirmes die ausgelassen fröhliche Stimmung einzufangen wusste.
Kirmes in Gleichamberg, 1959/60
Walter Wagner (1911-1993)
Öl auf Leinwand
121 cm x 180 cm
HMKV, Inv.-Nr. II 8033
Literatur
Rückert, Käthe: Hanswürste-Kirmes. Ein südthüringisches Dorf feiert nach alter Tradition, in: DBZ (1979) 49, S. 25.
Braune, Gudrun/Fauser, Peter (Red.)/Volkskundliche Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen: Kirmes in Thüringen, Erfurt 2018.
Kupfer, Regina (Ortschronisten Gleichamberg): Die Gleichamberger Kirmes und der Kirmesumzug, Typescript September 2021.
Kupfer, Regina (Ortschronisten Gleichamberg): Kunstmaler Walter Wagner – Chronik Gleichamberg, Typescript September 2021.