Mit der Glocke aus Rohr läuten wir im neuen Jahr 2025 unser Format „Objekt des Monats“ ein.
Die 1478 datierte Glocke aus Bronze gehört zu den ältesten und kulturhistorisch wertvollsten Sammlungsobjekten des Hennebergischen Museums Kloster Veßra. Sie ist in der Dauerausstellung Klostergeschichte zu besichtigen.
Ursprünglich hing die Glocke in dem heute nicht mehr erhaltenen Glockenturm des Benediktinerinnenklosters Rohr. Mit ihrem Geläut hat sie vermutlich die Nonnen zum Gebet und zu den Gottesdiensten gerufen. Neben dem liturgischen bzw. kirchlichen Glockenläuten wurden Glocken auch zu weltlichen Anlässen gebraucht, zum Beispiel wenn ein Unwetter aufzog oder ein Feuer ausgebrochen war. Auch in der Neujahrsnacht ist weltliches Glockengeläut zu hören. Zu welchen Anlässen die Glocke im Benediktinerinnenkloster Rohr geläutet wurde, lässt sich nicht mehr konkretisieren.
Die Glocke mit heute nicht mehr erhaltenem Klöppel wurde durch Bewegung um eine waagerechte Achse zum Klingen gebracht. Die Glocke misst in der Höhe mit Krone 46 cm. Die Krone diente zur Aufhängung. Sie wird aus sechs gebogenen und überkreuz um eine Mittelöse stehenden Henkeln gebildet. Unterhalb der gewölbten Haube der Glocke findet sich an der sogenannten Schulter eine umlaufende Inschrift. Dort steht in gotischen Minuskeln (Kleinbuchstaben) der Beginn des vielgesprochenen Gebets „ave + maria“, übersetzt „Gegrüßet seist Du Maria“. Es folgt mit der lateinischen Jahresangabe „anno + d[omi]ni + m + cccc + lxxviii“ das Entstehungsjahr der 1478 in Bronze gegossenen Glocke. Neben dem Anruf Mariä und dem Datum umfasst die Inschrift auch das Signum des Glockengießers. Es ist ein 6-Strahl-Stern, der dem Christusmonogramm ähnlich ist. Werner Scholz konnte in seinen umfangreichen Untersuchungen zur Glocke aus Rohr das Gießerzeichen auf weiteren Kirchenglocken im Henneberger Land nachweisen und somit einen Glockengießer ausmachen, der jedoch nicht namentlich bekannt ist. Anhand dieser Glocken lässt sich die Schaffenszeit des anonymen Gießers bzw. der Gießerfamilie zwischen ca. 1450 und 1510 eingrenzen und das Arbeitsgebiet zwischen Thüringer Wald und Main sowie Rhön und Fränkischer Schweiz lokalisieren. In der Glockeninschrift werden die einzelnen Wörter durch Kleeblattkreuze getrennt. Möglicherweise handelt es sich hierbei um apotropäische Zeichen, also Schutzzeichen zum Beispiel gegen die Pest. Der einzige Schmuck der Glocke ist unterhalb des Inschriftenbandes ein mit Kreuzblumen besetzter Kleeblattbogenfries. Ferner gibt es einen schmalen Wulstring am unteren Teil des Glockenmantels. Der Wulstring ist an einer Stelle offensichtlich durch starke Abnutzung unterbrochen. Dies deutet darauf hin, dass die Glocke über längere Zeit hinweg auch von außen mit Hilfe eines Hammers angeschlagen worden ist und möglicherweise als Uhrschlagglocke diente. Ob die Glocke die weltliche Funktion als Uhrschlagglocke erst in nachklösterlicher Zeit erlangte, kann nur gemutmaßt werden.
Das Benediktinerinnenkloster Rohr wurde im Zuge der Reformation aufgelöst. 1562 gab es dort keine Nonnen mehr. Was in den folgenden Jahren mit der Glocke geschah, ist nicht überliefert. Sie wird erst im Jahr 1901 in der Literatur genannt: „Ein gotisches Glöckchen von 1488[sic!] hängt in dem neuen Fachwerkbau über den Turmfundamenten, […]“, schrieb Heinrich Bergner in seiner Topographie der Bau- und Kunstdenkmäler. Offensichtlich war die Glocke 1901 noch in Benutzung.
In den folgenden Jahrzehnten kam es unglücklicherweise zum Bruch der Glocke in zwei Teile. Die genauen Umstände sind unklar. Starke Anschlagstellen innen am unteren Glockenmantel deuten darauf hin, dass möglicherweise ein zu großer Klöppel verwendet wurde. Auch unsachgemäßes Läuten könnte zum Bruch der Glocke geführt haben. 1932 konnte Hermann Pusch in seiner Schrift über Kloster Rohr nur noch feststellen: „Eine Glocke aus der Klosterzeit, wenn auch aus 2 Bruchstücken bestehend, hat sich erhalten und steht im Herrenhause.“
Insbesondere Glockenbruch, aber auch unzählige funktionsfähige Kirchenglocken wurden in den beiden Weltkriegen für die Waffenindustrie eingeschmolzen. So galt auch die Glocke aus Rohr lange Zeit nach dem Krieg als verschollen. Es war eine Sensation, als die zerbrochene Glocke aus Rohr 1978 im Rahmen der Erfassung und Inventarisation des Glockenbestandes im Bezirk Suhl durch Werner Scholz wiederentdeckt wurde. Sie fand sich im Familienbesitz eines 1966 verstorbenen Müllermeisters. Im Tausch gegen Mühlenprodukte hatte der Müllermeister die Glocke bei einem Bauern erworben, eigentlich zum Einschmelzen, was glücklicherweise nicht geschah. Zeitweise war die Glocke als Leihgabe in der Heimatstube in Schwarza.
Im Dezember 1986 wurde sie schließlich von unserem Museum in Kloster Veßra angekauft. Es folgte eine fachgerechte Restaurierung durch Klaus Morgenbrod (Meininger Museen). Der die gesamte Glocke durchziehende Sprung, durch den ein großes Stück im oberen Bereich herausgebrochen war, wurde dabei nicht verschweißt. Zum einen wäre dadurch zu viel Originalsubstanz verloren gegangen, zum anderen hätte der ursprüngliche Klang der Glocke nicht wiederhergestellt werden können.
Den Klang der Glocke aus dem ehemaligen Benediktinerinnenkloster Rohr werden wir niemals hören können. In ihrem Aussehen mit Spuren der Zeit gibt die Glocke jedoch ein beredtes Zeugnis ab von ihrer Entstehung, ihrem Gebrauch und ihrer wechselvollen Geschichte in nachklösterlicher Zeit bis heute.
Glocke
Glocke aus dem ehem. Benediktinerinnenkloster Rohr, 1478
Material: Bronze, gegossen
Maße: Höhe gesamt: 46 cm; Höhe ohne Krone 35,5 cm; Durchmesser unten: 48 cm; Durchmesser oben: 26,3 cm
Gewicht: 50,5 kg
Inschrift: ave + maria + anno + d[omi]ni + m + cccc + lxxviii [Gießerzeichen]
HMKV, Inv.-Nr. II 3348
Literatur
Bergner, Heinrich: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen und angrenzenden Gebiete. Heft 22. Die Kreise Ziegenrück und Schleusingen, Halle/S. 1901, S. 180.
Pusch, Hermann: Kloster Rohr (Neue Beiträge zur Geschichte deutschen Altertums 37), Meiningen 1932, S. 45.
Scholz, Werner: Ein anonymer Glockengießer des späten 15. Jahrhunderts im Hildburghäuser Gebiet, in: Jahrbuch 1994 des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 9 (1994), S. 109–126.
Scholz, Werner: Eine Glocke aus dem ehemaligen Benediktinerinnen-Kloster Rohr, in: Hennebergisches Museum Kloster Veßra (Hg.): 25 Jahre Hennebergisches Museum Kloster Veßra 1975–2000. Festschrift (Veröffentlichungen des Hennebergischen Museums Kloster Veßra 12), Kloster Veßra 2000, S. 101–108.