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Der Atzmann im Hennebergischen Museum Kloster Veßra, oder: Ein Lesepult mit Einschusslöchern

Das Hennebergische Museum Kloster Veßra bewahrt seit 1988 eine überlebensgroße Skulptur, die einst im ehemaligen Wilhelmitenkloster Sinnershausen (Kloster Rosenthal) Zuhause war. Die mittelalterliche Steinfigur ist aus einem Werkstück gehauen und diente als Buchpult für liturgische Texte im Gottesdienst. Sie stellt einen Diakon dar, der eine geneigte Steinplatte als Buchablage hält, die an seiner Brust lehnt. Ein Diakon bekleidet ein geistliches Amt innerhalb der Kirche und hilft z. B. in sozialen Einrichtungen. Die Kleidung – eine bodenlange Albe (weißes Untergewand), darüber eine Dalmatika (weites liturgisches Obergewand), und ein Manipel (schmaler Stoffstreifen über dem linken Arm) – entspricht der liturgischen Amtstracht.

Rückseitig ist die Figur mit Rosetten im Bereich der Schulterblätter verziert. Die Rosetten und die bis unter die Ärmel geführten Gewandschlitze verweisen auf eine Entstehungszeit in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Unterhalb der Rosetten befand sich einst in Höhe der Ellbogen ein Eisenanker mit Haken. Nach der Auflösung des Klosters Sinnershausen (1525) wurde die Skulptur in eine halbrunde Mauernische eingelassen. Der Anker diente vermutlich zur Befestigung in dieser.

Über die Jahrhunderte erlitt die Figur starke Schäden durch Verwitterung, unsachgemäße Ergänzungen und Einschüsse, die durch Projektil-Treffer aus einem in den 1980er Jahren angrenzenden Schießstand verursacht wurden.

Das Gesicht der Figur ist beschädigt; die Hände sowie ein Teil der Pultplatte fehlen. Sehr wahrscheinlich wurde das Pult an der Pultkante mit beiden Händen gestützt.

1990 wurde das Objekt umfassend restauriert sowie teilrekonstruiert. Unter anderem wurden Ausblühungen gedünnt oder – wo möglich – entfernt, ebenso der Eisenanker und Krusten, die sich mit der Zeit gebildet hatten. Mit Kunstharzmörtel wurden Teile rekonstruiert sowie einige ältere Zementmörtelergänzungen ersetzt. Abblätterungen wurden mit Epoxidharz befestigt.

Früher wurde die Skulptur fälschlicherweise als Stifterfigur angesehen. Heute ist sie als sogenannter Atzmann identifiziert. Ein Atzmann bezeichnet eine Figur in Gestalt eines Subdiakons oder Diakons, der während Messen als Buchhalter fungierte. Er repräsentiert und ersetzt diesen und nimmt die Rolle des „Stummen Dieners“ ein. Meist ist er aus Stein gefertigt, seltener aus Holz.

Der Atzmann ist heute eine Seltenheit. Diese Buchträger-Skulptur in Form eines Leviten ist ein Phänomen des Spätmittelalters und nur für den (ehemals) deutschsprachigen Raum nachgewiesen; größte Verbreitung fand sie in Mainz und Umgebung. Anja Lempges beschäftigt sich in „Der Atzmann. Stummer Diener für lautes Lob“ ausführlich mit dem Typus. In einer vergleichenden Analyse der Werkgruppe benennt sie 19 Atzmänner, die heute erhalten sind. Einer ist jener aus Sinnershausen, der heute im Hennebergischen Museum ausgestellt ist. Eine Replik steht in der ehemaligen Klosterkirche Sinnershausen. Vergleichbare Exemplare sind u. a. in Straßburg, Naumburg/Saale, Frankfurt/Main und Würzburg erhalten. 


Autorinnen: Annique Görlach und Laura Körnig

Diakon aus dem Kloster Sinnershausen

2. Hälfte des 15. Jahrhunderts

weiß-grauer Sandstein mit
gelblichen Einschlüssen, jüngere Ergänzungen aus Kunstharzmörtel

187 cm x 57 cm x 45 cm

HMKV

 

Literatur:

Wölfing, Günther: „Der Diakon aus dem Kloster Sinnershausen“, in: Hennebergisches Museum Kloster Veßra (Hrsg.): 25 Jahre Hennebergisches Museum Kloster Veßra 1975 – 2000. Festschrift, Kloster Veßra 2000, S. 95–100.

Lempges, Anja: Der Atzmann. Stummer Diener für lautes Lob, Regensburg 2017.

Tanner, Stefan: Untersuchung und Restaurierung eines Buchpulthalters in Gestalt eines Diakons aus Sinnershausen, Potsdam 1990.

Hennebergisches Museum Kloster Veßra
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